Storytelling gehört zu den erfolgreichsten Kommunikationsformen der Menschheit. Diese Meinung vertritt auch die Wissenschaft. Narrationsforscher Michael Müller warnt Unternehmen aber davor, Geschichten um jeden Preis zu erzählen. Im TREIBSTOFF-Interview erklärt er, wann Storytelling nicht zum Ziel führt und wer beim Storytelling in Unternehmen den Hut aufhaben sollte.
TREIBSTOFF: Die Aufmerksamkeit von Kunden und Medienkonsumenten ist ein begrenztes und gleichzeitig hart umkämpftes Gut – warum kann gerade die uralte Technik des Geschichtenerzählens das permanente mediale Grundrauschen durchdringen?
MÜLLER: Weil Storytelling die erfolgreichste Kommunikationsform ist, die die Menschheit je entwickelt hat. Das liegt daran, dass Storytelling sehr gehirnadäquat ist – unser Gehirn liebt Geschichten, wie die Forschung herausgefunden hat. Man dringt mit ihnen sehr viel stärker zu den Menschen, zu ihren Emotionen und zu ihrer Identifikationskraft durch als mit reiner Faktenkommunikation.
TREIBSTOFF: Wie können Unternehmen gute Geschichten erzählen?
MÜLLER: Wie jede gute Geschichte braucht auch eine von Unternehmensseite kommunizierte Geschichte einen guten Protagonisten, mit dem sich der Rezipient identifizieren kann. Und sie braucht einen guten Spannungsbogen – es muss eine Veränderung stattfinden. Wenn nur ein Zustand beschrieben wird, dann ist es keine Geschichte. Über einen Konflikt oder eine Herausforderung muss sich etwas verändern: Am Anfang gibt es ein Defizit beim Kunden, am Ende ist ein Produkt da, das die Probleme des Kunden löst. Es muss also immer eine Transformation geben. Und natürlich muss sich mit dieser Transformation eine klare und zentrale Botschaft verknüpfen, die das Unternehmen verbreiten will oder für die es steht.
TREIBSTOFF: Wie lassen sich Konflikte oder Probleme als zentraler Bestandteil von Geschichten mit der Tatsache vereinbaren, dass sich Unternehmen ja eigentlich möglichst positiv darstellen wollen?
MÜLLER: Damit ist natürlich nicht gemeint, dass man von irgendwelchen unternehmensinternen Konflikten erzählt. Wenn man aber beispielsweise die Geschichte einer neuen Produktentwicklung erzählen will, dann kann man berichten, vor welchen Problemen man zum Beispiel bei den Materialien stand und wie man sie gelöst hat. Oder man berichtet davon, wie schwierig der Markt am Anfang war, und wodurch man diese Schwierigkeit überwinden konnte. Auch die Leistung, die das Unternehmen selbst erbracht hat, um das Produkt auf die Welt zu bringen, wird damit sehr viel größer dargestellt.
TREIBSTOFF: Sollten Kommunikationsprofis also nun um jeden Preis Geschichten erzählen?
MÜLLER: Nein. Geschichten eignen sich nicht für jeden Zweck. Wenn ich eine professionelle Zielgruppe anspreche und beispielsweise technische Daten an Ingenieure vermitteln will, dann ist es Unsinn, da eine Geschichte drum herum zu bauen. Ein Datenblatt ist hier eine sehr viel bessere Kommunikationsform. Man sollte immer hinterfragen, ob sich eine Geschichte für den jeweiligen Kommunikationszweck eignet. Das ist übrigens viel häufiger der Fall, als Unternehmen manchmal glauben. Wenn es eine Geschichte gibt, dann sollte ich sie auch erzählen. Wenn es keine gibt, dann sollte ich anders kommunizieren.
TREIBSTOFF: Wer ist innerhalb eines Unternehmens für das Erzählen von Geschichten zuständig? Die PR-Abteilung, die Marketingabteilung oder die Chefetage?
MÜLLER: Alle. Im Idealfall wird die Kerngeschichte, die ein Unternehmen erzählt, von der Unternehmensleitung entworfen. Es sollte klar sein: Worüber erzählen wir Geschichten, was ist der Kern unseres Unternehmens in Geschichtenform? Und daraus abgeleitet erzählen dann die PR, das Marketing oder die interne Kommunikation jeweils ihre Geschichten, die dazu passen. Die Entwicklung einer Storytelling-Strategie aber ist Chefsache.
TREIBSTOFF: Wer regelmäßig ins Kino geht, könnte meinen, dass Hollywood sich nur noch selbst recycelt. Gibt es überhaupt noch gute Geschichten?
MÜLLER: Ja. Es geht ja nicht nur um die Frage, was erzählt wird, sondern auch um das Wie. Man könnte auch den Standpunkt vertreten, seit Romeo und Julia bräuchte es keine Liebesgeschichten mehr, weil das Genre damit auserzählt ist. Aber es gibt immer wieder neue Formen, diese Geschichte zu erzählen und neue Arten, da ran zu gehen, ich glaube, dieser Fundus ist unerschöpflich. Man darf nur nicht immer wieder die gleichen Geschichten gleich erzählen, wie es Hollywood meiner Meinung nach derzeit im Blockbuster-Bereich tut.
TREIBSTOFF: Anders gesagt hieße das also, dass es so viele Geschichten gibt wie Menschen?
MÜLLER: Ja, denn jeder hat seine eigene Geschichte und seine Identität ist mit den Geschichten verknüpft, die er erlebt hat, die er erzählt, die andere über ihn erzählen. Aus all dem lassen sich Geschichten machen, auch für Unternehmen.
TREIBSTOFF: Verändern die neuen Kommunikationsmöglichkeiten im Internet und besonders in den sozialen Medien den Anspruch an die Geschichten selbst oder an die Technik des Geschichtenerzählens?
MÜLLER: Jedes Medium hat bestimmte Anforderungen daran, wie eine Geschichte erzählt wird. Im Roman wird anders erzählt als im Film. In YouTube-Filmen sind die Geschichten eher kürzer. Aber die grundsätzliche Struktur von Geschichten ist immer gleich.
TREIBSTOFF: Ein Ratschlag, den Sie einmal gegeben haben, lautet: „Trauen Sie Ihren Geschichten“– was meinen Sie damit?
MÜLLER: Dass man die Geschichten, die authentisch im Unternehmen passiert sind, findet, sie richtig aufbereitet und dann darauf vertraut, dass sie beim Rezipienten ankommen werden.
Das Interview erschien ursprünglich in unserem aktuellen Whitepaper "Storytelling - Wie Unternehmen heute erfolgreich Geschichten erzählen".
Inhalt des Whitepaper:
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